Vom Klimawandel zur Klimahysterie?

   

Klimakatastrophe eine Erfindung?

Oder wie im Jahre 2004 die Klima-"Kipppunkte" geboren wurden und ihre zweifelhafte Karriere ihren Lauf nahm. Von Axel Bojanowski

 

(Axel Bojanowski, Jahrgang 1971, ist Diplom-Geologe und seit 1997 als Wissenschaftsjournalist tätig, zunächst freiberuflich, dann bei der „Süddeutschen Zeitung“ und beim „Stern“; jetzt bei SPIEGEL ONLINE. Außerdem arbeitet er als Dozent und schreibt eine monatliche Kolumne im international renommierten Wissenschaftsmagazin „Nature Geoscience“. Seine Kolumne „Graf Seismo“ über die größten Rätsel der Erde erscheint regelmäßig bei SPIEGEL ONLINE.)

 

„Ich erinnere mich an „Fingerfood“, das damals noch “belegte Brote” oder “Sandwiches” hieß, an zahlreiche Kippelemente an der Bar, an lange Nächte mit Kollegen und an interessante Vorträge. Ende August 2004 brachte das erste „Euro Science Open Forum“ in Stockholm Wissenschaftler und Journalisten zusammen, gefördert mit 480.000 Euro von der Europäischen Union. Als freier Journalist freute ich mich, dass ich über die „erste Entdeckung eines Himmelskörpers außerhalb unseres Sonnensystems mit lebenstauglicher Oberfläche“ berichten konnte.

 

Die spektakulärste Nachricht aber gab es aus der Klimaforschung. Am Vormittag des 26. August 2004 hielt der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Hans Joachim Schellnhuber, einen Vortrag über „Achillesversen der Erde“. In manchen Regionen drohte die globale Erwärmung unwiderruflich katastrophale Umwälzungen anzustoßen, erläuterte der Physiker anhand einer anschaulichen Weltkarte, auf der die Orte künftiger Großkatastrophen eingetragen waren. Ein BBC-Kollege bat Schellnhuber um verständlichere Formulierungen. Schellnhuber, so erzählt er es in seiner Biografie, fiel das populärwissenschaftliche Buch „The Tipping Point“ ein, das er gerade gelesen hatte, und dessen Konzept er nun „spontan auf die ganze Klimaproblematik ausdehnte“, wie Schellnhuber sich erinnert.

 

“Klimaüberraschungen”. Der Artikel auf „BBC News“ erschien gleich am Abend nach Schellnhubers Veranstaltung in Stockholm: „Earth warned on tipping points“, titelte das Magazin – der Begriff sollte Karriere machen. „Gute Metaphern sind von unschätzbarem Wert“, resümiert Schellnhuber. Kipppunkte sollten fortan Schwellen im Klimasystem beschreiben, die unwiderrufliche und katastrophale Änderungen bringen. Bereits 2001 hatte Schellnhuber in einem Vortrag in Oxford „mögliche Großunfälle im System Erde“ vorgestellt. Sein Kollege Stephen Schneider schon in den 1990ern immer wieder von möglichen “Klimaüberraschungen” gesprochen, die drohen würden.

 

“Kultcharakter”. Sein Vortrag in Oxford 2001 sei die „Uraufführung einer Art Weltkarte“ gewesen, „die längst Kultcharakter besitzt“, schreibt Schellnhuber in Anspielung auf die mittlerweile in Medien allgegenwärtigen Kipppunkte-Weltkarten. Markiert hatte er Orte, an denen unerfreuliche „Klima-Überraschungen“ drohen könnten, darunter: Amazonas-Regenwald, Tropische Korallenriffe, Arktisches Meereis, Grönlandeis.

 

Dürres Wissen über Kipppunkte. Doch es mangelte an Wissen über die Folgen des Klimawandels. Zwar war es Anfang der 2000er-Jahre gelungen, die berechtigte Warnung vor einem menschengemachten Klimawandel in der Öffentlichkeit zu verankern. Mögliche Folgen der Erwärmung aber blieben vage (was keine Entwarnung bedeutete, vielleicht eher im Gegenteil).

 

Bis heute, mehr als 20 Jahre später, hat sich das Verständnis möglicher Kipppunkte kaum verbessert. Der aktuelle UN-Klimabericht, der das Wissen zum Klimawandel zusammenfasst, dokumentiert Unwissen: Kipppunkte könnten zwar „nicht ausgeschlossen werden“, doch es gebe „ungenügende Evidenz“, einen „Mangel an Daten“, das Thema sei „herausfordernd“. Führende Klimaforscher äußern sich skeptisch über Kipppunkte.

 

Ob es sie gibt? Jochem Marotzke beispielsweise, Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie, sagte kürzlich: „Ehe wir uns auf künftige Nichtlinearitäten im Klimageschehen einstellen, sollten wir uns vergewissern, dass es sie überhaupt gibt“, er. „Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Nichtlinearitäten umso weniger sichtbar werden, je komplexer wir unsere Modelle konstruieren“, sagte Marotzke. Je realistischer das System, das auf dem Computer simuliert werde, desto stabiler scheine es zu werden. Auf die Frage, welcher Kipppunkt ihm am meisten Sorge mache, erwiderte Jochem Marotzke 2020: „Keiner.”

 

Thema für Medien und Politik. Die Kipppunkte blieben zunächst reines Medienthema, konstatierten Kommunikationsforscher um Sandra van der Hel von der Universität Utrecht im Fachmagazin „Environmental Communication“. Für Februar 2005, ein halbes Jahr nach seinem BBC-Interview, hatte Schellnhuber für eine Konferenz beim britischen Wetterdienst in Exeter rund 200 Kollegen zusammengetrommelt: Die Tagung „Avoiding Dangerous Climate Change“ versprach „ein besseres Verständnis der Wahrscheinlichkeit von Kipppunkten“. Doch ob Grönlandeis, Golfstrom oder Permafrostboden, die Wissenschaftler stellten in ihrer Tagungsbilanz fest: „Die Frage, wie ein gefährlicher Klimawandel definiert werden sollte, bleibt ungewiss“.

 

Tony Blair greift ein. Wie noch häufig brachte das Zusammenspiel mit der Politik einen Durchbruch: Für den G8-Gipfel im britischen Gleneagles im Juli 2005 war die Klimakatastrophe dramaturgisch eingeplant: Großbritanniens Premierminister Tony Blair schrieb das Vorwort für den Tagungsband der Kipppunkte-Tagung. Blair brauchte wegen seines Irak-Krieg-Problems ein großes Thema. Das Klimathema konnte politische Konflikte zum Irak-Krieg überblenden. Die Exeter-Klimakonferenz über „Vermeidung gefährlicher Klimaänderungen“ habe der Absicht der Regierung gedient, „den G8-Gipfel in Gleneagles durch eine hektische Woche von ‚Klimaveränderung ist schlimmer als wir dachten‘-Berichterstattung und Gruppendenken aufzuweichen“, beobachtete der Klimaforscher Mike Hulme.

 

“Inszenierung neuer Sprache”. Die Kipppunkte wären die entscheidende Zutat gewesen, erläuterte Hulme: „Durch die Inszenierung der neuen Sprache der Katastrophe wurde die Konferenz selbst zu einem Wendepunkt in der Art und Weise, wie der Klimawandel in der Öffentlichkeit diskutiert wird“, schrieb er. In einem offenen Brief an die EU-Staatsoberhäupter warnte Blair 2006: „Wir haben nur ein Zeitfenster von 10-15 Jahren, um die notwendigen Schritte zu unternehmen, um das Überschreiten eines katastrophalen Wendepunkts zu vermeiden.“ Der „Spiegel“ titelte auf seiner Internetseite: „Blair warnt vor dramatischem Klimawandel“. Der Artikel beschwor Ernteausfälle, Wüstenbildung, Völkerwanderungen, Wasserknappheit, Korallensterben, Eisbären-Aussterben, Malaria und Kippelemente.

 

Auf der Titelseite. Eine Rede im Dezember 2005 des bekannten NASA-Klimaforschers James Hansen bei der Jahrestagung der American Geophysical Union hatte den Kipppunkten weiteren Schwung verliehen: „Wir stehen am Abgrund von Kipppunkten des Klimasystems, jenseits derer es keine Erlösung gibt“, rief Hansen den Kollegen zu, der für drastische Klimawarnungen bekannt war.

 

2006 schaffte es die Metapher auf die Titelseite des Time Magazine, wo es hieß: „Die Erde am Kipppunkt“. Die „Washington Post“ meldete: Ein globaler Kipppunkt, ein „point of no return“ würde 2035 erreicht. 2008 resümierte das Magazin „Science“, das Thema sei „Mainstream“ geworden, weniger als drei Jahre nach der Veröffentlichung des ersten wissenschaftlichen Artikels über Kipppunkte. Dabei gab es 2007 gerade mal sieben wissenschaftliche Publikationen zum Thema. 2009 waren es 30.

 

Mit Tricks in die wissenschaftliche Literatur. Die bis heute grundlegende Publikation zu den Kipppunkten stammt von einer Gruppe um Hans Joachim Schellnhuber und seinem späteren Nachfolger als PIK-Direktor Johan Rockström. Zusammen mit ihrem PIK-Kollegen Stefan Rahmstorf, dem britischen Klimatologen Timothy Lenton und anderen hatten sie 2008 eine Umfrage mit Antworten von 52 Klimaforschern veröffentlicht, die rasch zu einer der meistzitierten Arbeiten der Klimaforschung aufstieg.

 

Tausende Studien beziehen sich auf sie, es ist das mit Abstand einflussreichste Papier zum Thema.

 

Mit jener Publikation von 2008 machte der Begriff „Kipppunkt“ Karriere, Massenmedien berichteten weltweit, und mittlerweile verlinken 63 Wikipedia-Artikel auf den Aufsatz. Der Wikipedia-Artikel über Kipppunkte selbst liest sich fast wie eine Kopie der PIK-Arbeit. Das Problem: Sie genügte nicht den Standards einer wissenschaftlichen Studie.

 

Umfrage entscheidet Die Umfrage der PIK-Forscher war zwar im Wissenschaftsmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) erschienen, dem Magazin der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA (NAS). Es war aber keine begutachtete Studie, sondern ein „Einstandsartikel“, den neu gewählte NAS-Mitglieder einreichen dürfen, „um sich den Lesern von PNAS vorzustellen“. 2005 war Schellnhuber in die NAS aufgenommen worden, die Kipppunkte-Umfrage war seine erste PNAS-Veröffentlichung. PNAS veröffentlichte den Kipppunkte-Beitrag als eine „Perspective“. Im Gegensatz zu Studien genügen „Perspectives“ schwachen Kriterien: Solche Texte brauchen laut PNAS lediglich „ein kritisches wissenschaftliches Problem identifizieren, eine Bewertung auf dem neuesten Stand der Technik liefern und neue Einsichten oder einen neuen Ansatz zu seiner Lösung bieten“.

 

„Bauchgefühl der Wissenschaft“. Es reicht also ein interessanter Überblick über ein relevantes Forschungsthema. Ob es wissenschaftlich substanzielle Belege gibt für die dargelegten Phänomene, ist für eine „Perspective“ nicht von Belang. So gelangte die Kipppunkte-Warnung in ein renommiertes Wissenschaftsmagazin.

 

Umfragen wären problematisch, räumten die Autoren selbst ein. Es würde bemängelt, dass sie nicht zum Bestand wissenschaftlicher Erkenntnisse beitrügen, sondern lediglich Vorurteile reproduzierten. Dabei hätten sich Umfragen als „wertvolle Informationsquelle öffentlicher Politikgestaltung erwiesen“. Schellnhuber spricht vom „Bauchgefühl der Wissenschaft“.

 

Ein Jahr nach ihrer Umfrage publizierte Schellnhuber zusammen mit Kollegen erneut über Kipppunkte in „PNAS“, diesmal eine Umfrage unter 43 Klimaforschern. Die Gutachter akzeptierten sie diesmal als richtige Studie, allerdings blieb deshalb von dem alarmierenden Duktus des vorherigen Aufsatzes wenig übrig: „Ungenaue Wahrscheinlichkeitsabschätzung von Kipppunkten im Klimasystem“, hieß die Arbeit.

 

Politischer Begriff. Der Text offenbarte, dass es für Kipppunkte-Alarm zu früh schien: „Obwohl die Expertenschätzungen eine große Unsicherheit hervorheben, weisen sie einigen der oben aufgeführten Ereignisse eine signifikante Wahrscheinlichkeit zu“, schrieben Schellnhuber und seine Kollegen ungewohnt zurückhaltend. Die Arbeit ging unter im Vergleich zur vorherigen, sie erreichte nur einen Bruchteil der Zitate.

 

Wirkmacht entfalteten die Kipppunkte außerhalb der Wissenschaft. Der Begriff „Kipppunkt“ werde verwendet, um „ein politisches Problem zu lösen, indem die öffentliche Wahrnehmung auf neue und substanzielle Weise umstrukturiert wird“, kommentierten Chris Russill von der Carleton University und Zoe Nyssa von der University of Chicago 2009 im Fachblatt „Global Environmental Change“.

 

Die Erfindung der “Heißzeit”. Als Rockström, Schellnhuber und Kollegen 2018 wieder die Kipppunkte mit Dringlichkeit in die Debatte speisen wollten, gingen sie erneut auf Nummer Sicher und wählten eine PNAS-„Perspective“ ohne harte Begutachtung. Der Beitrag war von „PNAS“ ungewöhnlich schnell publiziert worden: schon 17 Tage nach Eingang in der Redaktion. Bei Studien können Monate oder gar Jahre vergehen bis zur Veröffentlichung.

 

Der ungewöhnliche heiße Sommer 2018 in Europa und den USA half vermutlich bei der Platzierung des Aufsatzes, der vor einer „Heißzeit“ warnte, vor „Hothouse Earth“, aus der es kein Zurück mehr gebe. Neue Erkenntnisse brachten die Autoren nicht, es handelte sich um die bekannten Spekulationen über die angeblichen Kipppunkte, die eine „Stabilisierung des Klimas verhindern“ könnten.

 

Die „Perspektive“ entfaltete enorme Wucht, die mediale Resonanz war riesig. Der Aufsatz war laut einer Analyse die „einflussreichste Klima-Veröffentlichung 2018“, und „Heißzeit“ wurde von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum „Wort des Jahres“ gewählt. Die Kipppunkte waren zum Kulturphänomen geworden.

 

„Bauchgefühl der Wissenschaft“. Zwar äußerten renommierte Klimaforscher, wenn sie überhaupt mal danach gefragt wurden, Zweifel: „Die Forschung ist noch nicht so weit, dass man von allgemein anerkannten zukünftigen Kippelementen sprechen könne“, sagte etwa Martin Claußen, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie, dem bedeutendsten deutschen Klimaforschungsinstitut.

 

Doch die PIK-Forscher ließen sich nicht beirren. In „Nature“ veröffentlichten sie Ende 2019, kurz vor der UN-Klimakonferenz in Madrid, einen Kommentar: „Klima-Kipppunkte – zu riskant, um dagegen zu wetten“. „Die steigende Gefahr von abrupten und unumkehrbaren Klimaumschwüngen“, hieß es in dem Text, „muss zu politischen und wirtschaftlichen Taten zwingen“.

 

„Weniger überzeugt“. Der Klimaforscher Justin Ritchie zeigte sich irritiert angesichts des auffällig häufig im Text vorkommenden Wortes „falls“; das Wort „könnte“ kam sogar 25-mal vor: „Wenn es elfmal ‚falls‘ braucht, um eine Meinung zu stützen, dann sollte man die Substanz überprüfen“, schrieb er. „Nach dem Lesen bin ich nun weniger überzeugt von bevorstehenden Kipppunkten.“

 

Der „Nature“-Kommentar musste ein halbes Jahr nach Veröffentlichung ungewöhnlich stark korrigiert werden: Gleich fünf Fehler in der zentralen Abbildung des Artikels hatten Leser entdeckt. Bei „Nature“ waren sie nicht aufgefallen – der Text hatte als Kommentar ohne Begutachtung veröffentlicht werden können.

 

Die Autoren aber ließen nicht locker: Das “Endgame Climate”. Eine Gruppe um Rockström und Schellnhuber veröffentlichte 2022 erneut eine dramatische Warnung vor Kipppunkten: „Climate Endgame – Erforschung katastrophaler Klimawandelszenarien“ lautete der Titel einer weiteren „Perspective“ in PNAS. Die Thesen: Die Welt wäre auf dem Weg in ein Extremszenario, Extremszenarien würden vernachlässigt, ihre Betonung könnte Klimaschutz-Handeln beschleunigen.

 

Bislang hatten Klimaforscherkollegen zwar die Nase gerümpft über all die schillernden Kipppunkt-Publikationen, aber öffentlich meist geschwiegen. Das „Climate Endgame“ aber provozierte Kritik.

 

„Meiner Meinung nach gibt es kaum Beweise dafür, dass der Klimawandel schlimmer ist, als wir dachten, noch dass Bewertungen die Risiken herunterspielen oder dass wir dem Untergang geweiht sind“, erklärte der Klimatologe Reto Knutti von der ETH Zürich. Der Artikel spiegele „nicht das Mainstream-Denken zum Thema Klima wider“.

 

„Verzerren und verwirren“. Es sei „nicht die erste derartige PNAS-Perspektive derselben Autoren“, betonte Knutti. Jene Veröffentlichungen seien zwar „interessant zu lesen“, aber eben Meinungsbeiträge, keine neue Wissenschaft. „Ich schätze die Autoren und ihre Arbeit“, erklärte Knutti, aber solche Artikel würden „vorhersehbar verzerren und verwirren, ohne neue Erkenntnisse zu liefern“.

 

Auch der Umweltforscher Roger Pielke Junior von der University of Boulder widersprach den Thesen der PIK-Forscher: Er wies darauf hin, dass unrealistische Extremszenarien im UN-Klimabericht am häufigsten von allen Szenarien verwendet werden. Aktuelle Schätzungen zeigten zudem eine deutlich geringere Erwärmung, als im „Climate Endgame“-Artikel behauptet. Aber die Kipppunkte-Gruppe um Rockström und Schellnhuber arbeitete bereits an den nächsten Veröffentlichungen. Im Herbst 2022 hatte Rockström mit Kollegen eine Kipppunkte-Studie in „Science“ unterbringen können, wonach bereits oberhalb von 1,5 Grad Erwärmung Kipppunkte drohen könnten. Medien weltweit berichteten.

 

“Politisch gefärbt”. Schellnhuber, der diesmal nicht an dem Artikel beteiligt war, durfte ein kurzes Vorwort beitragen: „Die Analyse zeigt, dass selbst eine globale Erwärmung von 1 °C, eine Schwelle, die wir bereits überschritten haben, uns in Gefahr bringt, indem sie einige Kipppunkte auslöst“, schrieb Schellnhuber.

 

Nicht in die Schlagzeilen gelangte wie üblich die Kritik: Der „Science“-Aufsatz müsste mit Vorsicht rezipiert werden, kommentierte der Klimaforscher Philippe Huybrechts von der Vrije Universiteit Brussel. Die Übersichtsarbeit in „Science“ sei politisch gefärbt; Berichte des UN-Klimarats seien vorsichtiger gehalten – aus gutem Grund: „Wir wollen unsere Aussagen ja nicht schon in fünf Jahren wieder revidieren“, sagte Huybrechts der „NZZ“. Der Klimatologe Thomas Stocker von der Universität Bern, Vorsitzender des fünften UN-Klimareports, mahnte angesichts der Studie ebenfalls zur Vorsicht: „Ich bin der Auffassung, dass sich das so eindeutig noch nicht sagen lässt, der Stand der Forschung gibt das nicht her“, sagte er der „Zeit“.

 

“Anschaulich und dramatisch”. Die Klimawissenschaft wisse „noch zu wenig über Kipppunkte, sowohl was die Theorie betrifft als auch die Modelle und die Beobachtungen“, erläuterte Stocker. Zwar sei bekannt, dass im Laufe von Milliarden Jahren Erdgeschichte Kipppunkte überschritten wurden, aber wo genau sich Schwellen befänden, könnte die Wissenschaft “noch nicht beantworten”. Stocker beklagte „einen Bias in der Berichterstattung“, also eine Verzerrung: Kipppunkte erregten viel Aufmerksamkeit, weil sie „anschaulich und dramatisch“ wirkten. „Aber für die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft ist das meiner Ansicht nach riskant, denn wir diskutieren immer noch auf der Basis von relativ wenig Evidenz“, mahnte Stocker.

 

Vermarktung der Kipppunkte. Nutznießer der Kipppunkte lässt das Unwissen kalt. Die Vereinten Nationen, für die globale Probleme wie der Klimawandel statusfördernd sind, griff die „Science“-Studie von Rockström dankbar auf. Im September 2022 warnten die UN: „Wenn die Welt einen Kipppunkt erreicht, werden wir mit unwiderruflichen Veränderungen konfrontiert sein.“

 

Kurz darauf twitterte die Grünen-Politikerin Kathrin Henneberger von den Klimaprotesten im Kohlerevier in Lützerath: „Global sind wir dabei die Klimakipppunkte zu überschreiten. Hier wird derweil gebaggert als wäre das alles nicht real, als gäbe es keine Klimakrise.“

 

PIK-Forscher Stefan Rahmstorf nutzt seine Kipppunkte-Aufsätze für eigene Produkte: „Wir sind dabei, gefährliche Kipppunkte zu überschreiten“, twitterte er Ende September 2022. „Die dadurch ausgelösten, unumkehrbaren Veränderungen werden auch für uns in Deutschland verheerend sein und können ganze Gesellschaften destabilisieren“, schrieb Rahmstorf. Dazu stellte er eine Werbung für ein neues Buch, an dem er mitgewirkt hat: „3 Grad mehr – Ein Blick in die drohende Heißzeit“.

 

“Dann ist Daueralarm” In der Klimaforschung stößt die Kipppunkte-Vermarktung aus Potsdam bei vielen auf Unverständnis. Die Kipppunkte (auf Englisch: Tipping-Points), die seine Kollegen am PIK hervorheben würden, basierten „auf ihrer privaten, viel schwächeren Definition“, sagte Bjorn Stevens, der Co-Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie der „Zeit“. „Da werden Tipping-Points umgedeutet, sodass auch weniger abrupte oder sogar umkehrbare Klimaveränderungen darunterfallen.“

 

Mit dieser „Neudefinition finden Sie Kipppunkte überall, dann ist Daueralarm“, erläuterte Stevens. „Mein Institut verharmlost Kipppunkte nicht, wir legen nur mehr Wert auf Klarheit.“

 

Die neueste Studie Aber tiefgehende Arbeiten finden öffentlich kaum Aufmerksamkeit. Keine Schlagzeilen lieferte die neue Studie eines internationales Forscherteams von Mitte Februar, die Luft aus der Kipppunkte-Hysterie ließ: „Die meisten Kippelemente besitzen nicht das Potenzial für abrupte zukünftige Änderungen innerhalb von Jahren“, resümierten die Experten im Fachblatt „Reviews of Geophysics“.

 

Bei manchen würde es sich wohl nicht mal um Kipppunkte handeln, gleichwohl könnte die Erwärmung die Phänomene in „schwerwiegender Weise“ verändern.

 

Klimaforscher Stocker warnt vor Übertreibungen: Er habe mal in einer Debatte den Standpunkt vertreten, „dass wir noch nicht genug über Kippelemente wissen“, doch die Stimmung sei so aufgeheizt gewesen, dass er nicht mehr zu Wort gekommen wäre, erzählte der Klimaforscher.

 

“Beängstigend”. Sogar „gewaltsamer Widerstand“ sei in der Debatte propagiert worden. Doch es habe niemand widersprochen, sagte Stocker. „Das fand ich sehr beängstigend.“ Seine Bedenken verhallen. Die Kipppunkte brachten Aktivisten ein wesentliches Argument: Wie Populismus häufig die Angst der Menschen vor Veränderung ausnutzt, erlauben Kipppunkte diese Ansprache in drastischer Weise in Sachen Klimawandel.

 

„Wir sind die letzte Generation vor den Kipppunkten!“, plakatiert die „Letzte Generation“ – Kipppunkte sind zum wichtigsten Argument der Klimaaktivisten geworden.

 

PIK-Direktor Johan Rockström brachte sie im Januar zur großen Aufführung. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos warnte er vor 16 Kipppunkten, neun zeigten „Anzeichen der Instabilität“, mahnte Rockström. Sie drohten „die Menschheit zu unterminieren.“ Er erntete Applaus.